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Berufskrankheit: Definition, Nachweis und Anspruch nach deutschem Recht

Eine Berufskrankheit stellt für Betroffene oft eine existenzielle Herausforderung dar, die weitreichende rechtliche und finanzielle Konsequenzen nach sich zieht. Nach deutschem Recht sind Berufskrankheiten Erkrankungen, die durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurden und in der Berufskrankheitenverordnung (BKV) aufgeführt sind. Die rechtssichere Anerkennung und Durchsetzung von Ansprüchen erfordert fundiertes Wissen über die komplexen gesetzlichen Bestimmungen.

Laut aktuellen Statistiken der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden im Jahr 2024 insgesamt 90.749 Verdachtsanzeigen auf Berufskrankheiten gestellt, wovon 26.821 Fälle anerkannt wurden (https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/bk-geschehen/index.jsp). Diese Zahlen verdeutlichen sowohl die Relevanz des Themas als auch die Herausforderungen bei der erfolgreichen Anerkennung. In 5.190 Fällen wurde eine Rente bewilligt, während bei 54.394 Fällen die Anerkennung abgelehnt wurde. Diese niedrige Anerkennungsquote verdeutlicht die erheblichen rechtlichen Hürden, die Betroffene bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche überwinden müssen. Gleichzeitig zeigen jüngste Rechtsentwicklungen, insbesondere das wegweisende Urteil des Bundessozialgerichts zur Posttraumatischen Belastungsstörung bei Rettungssanitätern vom 22. Juni 2023, dass sich das Berufskrankheitenrecht kontinuierlich weiterentwickelt und neue medizinische Erkenntnisse aufgreift.

 

Definition und rechtliche Grundlagen der Berufskrankheit

 

I. Gesetzliche Definition nach § 9 SGB VII

Die rechtliche Definition einer Berufskrankheit ergibt sich aus § 9 Absatz 1 des Siebten Sozialgesetzbuchs (SGB VII). Demnach sind Berufskrankheiten "Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden."

Diese Definition enthält drei wesentliche Tatbestandsmerkmale:

  1. muss die Erkrankung in der Berufskrankheitenliste der BKV aufgeführt sein.
  2. muss ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Erkrankung bestehen.
  3. muss die schädigende Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden haben.

 

II. Die Berufskrankheitenverordnung (BKV)

Die Berufskrankheitenverordnung, zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 29. Juni 2021 (BGBl. I S. 2245), enthält die abschließende Liste aller anerkannten Berufskrankheiten. Diese ist in sechs Hauptgruppen unterteilt:

  1. Chemische Einwirkungen (BK-Nummern 1101-1321)
  2. Physikalische Einwirkungen (BK-Nummern 2101-2402)
  3. Infektionskrankheiten und Tropenkrankheiten (BK-Nummern 3101-3104)
  4. Erkrankungen der Atemwege und der Lungen (BK-Nummern 4101-4115)
  5. Hautkrankheiten (BK-Nummern 5101-5103)
  6. Krankheiten sonstiger Ursachen (BK-Nummern 6101-6102)

 

III. Öffnungsklausel nach § 9 Abs. 2 SGB VII

Neben den Listenkrankheiten können auch andere Erkrankungen als Berufskrankheiten anerkannt werden, wenn nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen einer Berufskrankheit erfüllt sind (Öffnungsklausel). Hierfür ist jedoch ein besonders strenger Nachweis der beruflichen Verursachung erforderlich.

 

Nachweis und Beweisanforderungen bei Berufskrankheiten

 

Vollbeweis versus hinreichende Wahrscheinlichkeit

Die rechtlichen Anforderungen an den Nachweis einer Berufskrankheit sind außerordentlich hoch. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen verschiedenen Elementen mit unterschiedlichen Beweismaßstäben:

  • Vollbeweis erforderlich für:
    • Versicherte Tätigkeit
    • Verrichtung der Tätigkeit
    • Schädigende Einwirkungen
    • Vorliegen der Krankheit

  • Hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend für:
    • Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung

Der Nachweis einer Berufskrankheit erfordert grundsätzlich den Vollbeweis der haftungsbegründenden Kausalität. Das bedeutet, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen muss, dass die berufliche Tätigkeit die Erkrankung verursacht hat. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem Urteil vom 2. August 2022 (B 2 U 3/21 R) diese Rechtsprechung bestätigt und präzisiert, dass bereits eine "hinreichende Wahrscheinlichkeit" ausreichen kann, wenn diese auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen beruht.

 

Problematik des retrospektiven Nachweises

Besonders problematisch gestaltet sich der Nachweis bei Berufskrankheiten mit langen Latenzzeiten. Ein illustratives Beispiel bietet ein Fall vor dem Landessozialgericht, in dem ein Handwerker seine Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit anerkennen lassen wollte. Das Gericht stellte fest, dass alle Gutachten auf Annahmen und "Worst-Case"-Szenarien basierten, was für den geforderten Vollbeweis nicht ausreichte (Quelle: Sozialrecht Siegen, 2024, https://www.sozialrechtsiegen.de/gesetzliche-unfallversicherung-risiko-harnblasenkrebs/).

 

Beweislastverteilung und Amtsermittlung

Die Beweislast liegt grundsätzlich beim Versicherten. Diese strikte Verteilung wird jedoch durch den Amtsermittlungsgrundsatz im Sozialrecht modifiziert. Der Unfallversicherungsträger ist verpflichtet, alle zur Aufklärung erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.
Für bestimmte Fallkonstellationen schafft § 9 Abs. 3 SGB VII eine Beweiserleichterung: Es wird vermutet, dass eine Berufskrankheit infolge der versicherten Tätigkeit verursacht wurde, wenn Versicherte erhöhten Risiken ausgesetzt waren und keine Anhaltspunkte für außerberufliche Verursachung vorliegen.

 

Medizinische Sachverständigengutachten

Zentral für den Nachweis sind medizinische Sachverständigengutachten, die sowohl die Diagnose als auch die berufliche Verursachung beurteilen. Diese Gutachten müssen nach den "Falldefinitionen für die Begutachtung von Berufskrankheiten" der DGUV erstellt werden und alle relevanten Expositions- und Krankheitsdaten berücksichtigen.

 

Dokumentation der Arbeitsplatzexposition

Eine lückenlose Dokumentation der Arbeitsplatzexposition ist essentiell. Dazu gehören Arbeitsplatzbeschreibungen, Messwerte schädlicher Einwirkungen, verwendete Arbeitsstoffe und deren Sicherheitsdatenblätter sowie Angaben zu Schutzmaßnahmen und deren Wirksamkeit.

 

Ansprüche bei anerkannter Berufskrankheit

 

  1. Heilbehandlung und Rehabilitation
    Nach § 26 SGB VII haben Versicherte mit einer anerkannten Berufskrankheit Anspruch auf Heilbehandlung zur Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Dies umfasst ambulante und stationäre Behandlung, Arznei- und Verbandmittel, Heilmittel sowie berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation.

  2. Verletztengeld
    Während der Heilbehandlung besteht Anspruch auf Verletztengeld nach §§ 45 ff. SGB VII, wenn Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Das Verletztengeld beträgt 80% des regelmäßigen Arbeitsentgelts, höchstens jedoch das regelmäßige Nettoarbeitsentgelt.

  3. Verletztenrente
    Bei dauerhafter Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20% besteht Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 SGB VII. Die Rentenhöhe richtet sich nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und dem Jahresarbeitsverdienst.

  4. Hinterbliebenenrente
    Verstirbt ein Versicherter an den Folgen einer anerkannten Berufskrankheit, haben Hinterbliebene Anspruch auf Witwen-/Witwerrente und Waisenrente nach §§ 63 ff. SGB VII.

 

Aktuelle Rechtsprechung des BGH und der Sozialgerichte

 

  • BGH-Urteil zur Beweislast bei Berufskrankheiten
    Der Bundesgerichtshof hat in einem wegweisenden Urteil  die Beweislastverteilung bei Berufskrankheiten präzisiert. Demnach trägt der Geschädigte die Beweislast für die berufliche Verursachung seiner Erkrankung. Eine Beweislastumkehr zugunsten des Versicherten kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn der Unfallversicherungsträger seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen ist.

  • BSG-Rechtsprechung zu COVID-19 als Berufskrankheit
    Das Bundessozialgericht hat in mehreren Entscheidungen aus dem Jahr 2023 die Voraussetzungen für die Anerkennung von COVID-19 als Berufskrankheit konkretisiert. Entscheidend ist der Nachweis einer beruflich bedingten erhöhten Infektionsgefährdung gegenüber der allgemeinen Bevölkerung.

  • Neue Entwicklungen bei psychischen Berufskrankheiten
    Die Rechtsprechung zeigt eine zunehmende Bereitschaft, auch psychische Erkrankungen als Berufskrankheiten anzuerkennen, wenn sie durch extreme berufliche Belastungen verursacht wurden. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Urteil verstmals eine posttraumatische Belastungsstörung als Berufskrankheit nach der Öffnungsklausel anerkannt.

 

Durchsetzung von Ansprüchen: Verfahren und Rechtsmittel

 

  1. Meldung und Verfahrenseinleitung
    Das Berufskrankheitenverfahren beginnt mit der Anzeige eines Verdachts. Nach § 202 SGB VII sind Ärzte verpflichtet, jeden begründeten Verdacht zu melden. Auch Arbeitgeber und Versicherte können Anzeige erstatten. Nach Eingang einer Verdachtsanzeige führt der Unfallversicherungsträger umfassende Ermittlungen durch:
    • Erhebung der Arbeitsanamnese
    • Dokumentation der Expositionsverhältnisse
    • Medizinische Begutachtung
    • Prüfung des Ursachenzusammenhangs

  2. Medizinische Begutachtung und Kausalitätsprüfung
    Maßgeblich ist die unfallversicherungsrechtliche Kausalitätslehre von der "wesentlichen Bedingung". Nur solche Ursachen gelten als rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg wesentlich mitgewirkt haben.
    Der Kern des Verfahrens liegt in der medizinischen Begutachtung und Kausalitätsprüfung. Diese erfolgt zweistufig:
    1. Naturwissenschaftlicher Ursachenzusammenhang zwischen schädigender Einwirkung und Erkrankung
    2. Rechtliche Bewertung, ob berufliche Faktoren wesentlich für die Krankheitsentstehung waren

  3. Entscheidung und Rechtsschutz
    Bei Anerkennung hat der Versicherte Anspruch auf Leistungen nach SGB VII:
    • Medizinische Rehabilitation
    • Teilhabe am Arbeitsleben
    • Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
    • Verletztenrente bei dauerhafter Erwerbsminderung

  4. Bei Ablehnung steht der Rechtsweg offen:
    • Widerspruch (Erfolgsquote ca. 20 Prozent)
    • Klage vor dem Sozialgericht
    • Berufung zum Landessozialgericht
    • Revision zum Bundessozialgericht

  5. Bedeutung anwaltlicher Vertretung
    Aufgrund der Komplexität des Berufskrankheitenrechts ist eine frühzeitige anwaltliche Beratung empfehlenswert. Spezialisierte Rechtsanwälte können bereits im Anzeigeverfahren wichtige Weichen stellen und die Erfolgsaussichten erheblich verbessern.

 

Präventive Maßnahmen und Dokumentationspflichten

 

  1. Arbeitgeberpflichten nach ArbSchG
    Arbeitgeber sind nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet, Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen und präventive Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Eine ordnungsgemäße Dokumentation dieser Maßnahmen kann später bei der Anerkennung einer Berufskrankheit entscheidend sein.

  2. Vorsorgeuntersuchungen
    Regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen nach der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) dienen nicht nur der Prävention, sondern schaffen auch wichtige Dokumentationsgrundlagen für spätere Berufskrankheitenverfahren.

  3. Eigenverantwortung der Beschäftigten
    Beschäftigte sollten berufliche Expositionen und gesundheitliche Beschwerden sorgfältig dokumentieren. Ein Expositionstagebuch kann später als wichtiges Beweismittel dienen.

 

Vergleich der Rechtssysteme

Das deutsche Listenprinzip unterscheidet sich erheblich von offeneren Systemen anderer Länder. Während Deutschland auf eine abschließende Liste setzt, ermöglichen andere Länder grundsätzlich die Anerkennung aller arbeitsbedingten Erkrankungen bei nachgewiesenem Kausalzusammenhang.

Vorteile des Listensystems:

  • Rechtssicherheit
  • Klare Abgrenzung
  • Vereinfachte Bearbeitung

Nachteile:

  • Starrheit
  • Langsame Anpassung an neue Erkenntnisse
  • Ausschluss nicht gelisteter Erkrankungen

 

Zukünftige Herausforderungen

Die Zukunft des Berufskrankheitenrechts wird geprägt von:

  1. Demografischem Wandel: Längere Arbeitszeiten, mehr Langzeitexpositionen
  2. Digitalisierung: Neue Belastungsformen durch Bildschirmarbeit, ständige Erreichbarkeit
  3. Psychische Erkrankungen: Wachsende Bedeutung arbeitsbedingt verursachter psychischer Leiden
  4. Präventionsansätze: Verstärkte Investitionen in Früherkennung und Vorbeugung

 

Reformbedarf und Entwicklungstrends

Das BSG-Urteil zur PTBS zeigt die Entwicklungsfähigkeit des Systems. Weitere psychische Erkrankungen könnten folgen, insbesondere bei Berufsgruppen wie:

  • Polizisten
  • Feuerwehrleute
  • Pflegekräfte
  • Ärzte in Notaufnahmen

Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten für Expositionsüberwachung und präventive Interventionen. Gleichzeitig entstehen neue Beweisanforderungen für schwer messbare Belastungen der digitalen Arbeitswelt.

 

Fazit und Handlungsempfehlungen

Das deutsche Berufskrankheitenrecht steht vor erheblichen Herausforderungen. Die niedrigen Anerkennungsquoten von etwa 30 Prozent zeigen die hohen rechtlichen Hürden auf. Gleichzeitig verdeutlichen aktuelle Entwicklungen wie das BSG-Urteil zur PTBS die Reformfähigkeit des Systems.

Für Betroffene empfiehlt sich:

  • Frühzeitige fachkundige Beratung durch Sozialverbände oder spezialisierte Anwälte
  • Sorgfältige Dokumentation der Arbeitsplatzbelastungen
  • Nutzung des Widerspruchsverfahrens bei Ablehnungen
  • Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen nach § 3 BKV

Für die Rechtsentwicklung zeichnet sich ab:

  • Weitere Anerkennung psychischer Erkrankungen als Berufskrankheiten
  • Anpassung der Beweisanforderungen an digitale Arbeitswelten
  • Verstärkte Bedeutung präventiver Ansätze
  • Mögliche Flexibilisierung des starren Listenprinzips

Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts bleibt notwendig, um den berechtigten Ansprüchen der Betroffenen gerecht zu werden und gleichzeitig die Funktionsfähigkeit des Systems zu erhalten. Die aktuellen Entwicklungen geben Anlass zu verhaltenem Optimismus, dass das System trotz struktureller Probleme entwicklungsfähig bleibt.

Die Anerkennung einer Berufskrankheit erfordert umfassende Kenntnisse der rechtlichen Bestimmungen und eine strategische Herangehensweise. Betroffene sollten frühzeitig rechtlichen Rat suchen und alle relevanten Unterlagen sorgfältig sammeln. Die aktuelle Rechtsprechung zeigt eine tendenzielle Öffnung für neue Krankheitsbilder, stellt aber gleichzeitig hohe Anforderungen an die Beweisführung.

Arbeitgeber sind gut beraten, präventive Maßnahmen konsequent umzusetzen und zu dokumentieren, um sowohl ihrer rechtlichen Verantwortung gerecht zu werden als auch spätere Haftungsrisiken zu minimieren. Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts erfordert eine aufmerksame Beobachtung der Rechtsprechung und aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse.

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